Um die Entwicklung und Anwendung des Wortes kanon nachzuvollziehen, wird im Folgenden ein kurzer Exkurs in etymologische Ursprünge unternommen, um einen kanon ästherischer Arbeitspraxis in den normierten und gebräuchlichen Kontext einzuordnen - ohne diesen Kontext als Rahmen-Bedingung grundzulegen, sondern vielmehr um mit seinen Grenzstücken anzubandeln und zum Tanze aufzufordern.

Das griechische Wort κανών (Kanon) ist ein Lehnwort aus dem Semitischen (vgl. hebr. qanae, aram. qanja, babyl.-assyr. qanu) und bezeichnete ein Rohr, aus dem Körbe, Messruten und Ähnliches hergestellt wurden.[1]  In der griechischen Verwendung des Wortes verschob sich der Fokus von der Bezeichnung einer Materialität (eines Rohres oder Stabes) zu der Definition ihrer äußeren Form, die als Norm für die Bemessung, Beurteilung und Bewertung der Erscheinung gelten konnte. Als regelhafter Maßstab konnte eine Richtgröße der Geradlinigkeit benannt werden, die Abweichung und Annäherung zu ihr definierte.

Sowohl in der Literatur als auch in der Bildenden Kunst beschreibt „Kanon“ eine Sammlung vermeintlich wesentlicher, normgebender und zeitloser Werke, die als querschnittshafte Grundlage des jeweiligen Gebietes verstanden werden. Über den Querschnitt hinaus wird auch das Gebiet selbst begradigt, abgesteckt und definiert – Grenzpunkte zur Überschneidung mit anderen Formen menschlichen Ausdrucks werden entlang des Maßstabes abgeglichen und sorgfältig ausgekämmt. Eine Norm wird geschaffen und definiert sich als Bezugsgröße. Eine erstrebenswerte Richtschnur als äußere Maßgabe bildet das Erscheinungsbild eines klassischen Kanons. Was wäre jedoch, wenn wir einen kanon in Schichtungen denken und handeln, ästhetische Praktiken in ihrer Erkenntnisfähigkeit anerkennen und aus der Verwobenheit selbst die Schichten dialogisch kenntlich machen?

Das Kanonische in der Musik beschreibt eine klangliche Komposition der Mehrstimmigkeit, der intervallhaften Ineinanderschiebung von Stimmen als Bezugnahme zueinander, als Nebeneinander, und als gemeinsamer Klangraum, der im Choral emporsteigt. Und doch bleibt meist die nummerierte Stimmenfolge entlang der ersten Stimme, eine Einsatzformation der Stimmen und ein zueinander versetztes Einsetzen der verschiedenen Stimmräume. Meist einer gleichen Melodie folgend gibt es kanongeleitete Abfolgen in derselben Stimmhöhe ebenso wie im Terz-, Quart- und Quintabstand.

Der lateinische Terminus Canon beschrieb in der mittelalterlichen Musiktheorie keine musikalische Gattung, sondern vielmehr eine Anweisung, aus der sich ein Handlungsimpuls ableitete. Ein wiederkehrendes Prinzip ist das Wiederholende, das sich verbindend zwischen den Stimmen verflechtet.


[1] Vgl. Historisches Wörterbuch der Philosophie, Schlagwort Kanon. https://www.schwabeonline.ch/schwabe-xaveropp/elibrary/start.xav?start=%2F%2F%2A%5B%40attr_id%3D%27hwph_productpage%27%5D#__elibrary__%2F%2F*%5B%40attr_id%3D%27verw.kanon%27%5D__1635840566491